Von Melanie Stitz (Bündnis für ein gemeinwohlorientiertes Gesundheitswesen NRW) bei einer Veranstaltung von ver.di am 04. September 2025 zur NRW-Kommunalwahl 


Warum Gesundheitsversorgung überhaupt feministisch betrachten?

Dazu möchte ich Sie/Euch mitnehmen auf einen Gedankengang: Was zeichnet denn eine feministische Perspektive aus? Und warum – so meine These – ist sie gut für alle?

Feminismus, so wie ich ihn verstehe, denkt unterschiedliche Formen von Ausbeutung und Unterdrückung als miteinander verschränkt und bedingend, auf komplexe und oft auch widersprüchliche Weise (intersektionaler Feminismus). Er übt Gesellschaftskritik „von unten“, aus Perspektive derer, die oft übersehen werden, die als anders gelten und ihren Bedürfnissen als besonders. Ich meine diejenigen, die oft stören, weil sie Umstände machen, weil die Architektur, die Spielregeln, die Standards… einfach nicht auf sie passen. Manche erinnern sich vielleicht noch daran, dass es in den 1970er Jahren im Handwerk kaum Ausbildungsplätze für Frauen gab, mit dem Argument, es gebe in der Werkstatt keine Frauentoiletten… Einen feministischen Standpunkt einnehmen heißt, sich dagegen sperren, angeblich selbstverständlich mitgemeint und doch nicht mitgedacht zu sein.

Vieles ist da bereits erkämpft worden, an Rechten, Teilhabe, Sichtbarkeit. Ich möchte für den Gesundheitsbereich ein paar Stichworte nennen: Dass Körper nicht alle gleich sind, dass auch Geschlecht einen Unterschied macht und zugleich nicht alles erklärt, dass es ein breites Spektrum gibt – solche Einsicht hat sich nach und nach durchgesetzt. Es gibt nicht nur Körper, die männlich und weiß sind. Herzinfarkte sehen nicht immer gleich aus, Medikamente wirken unterschiedlich, Wechseljahre sind keine Krankheit, dennoch sollten Ärzt*innen sich damit auskennen; Endometriose und diejenigen, die darunter leiden, werden – und das hat lange gedauert – heute ernster genommen…  Es gibt einen Begriff dafür, im medizinischen Sinne nicht zu existieren: Medical Ghosting (damit verwandt: Medical Gaslighting: dem*der Gegenüber ihre Wahrnehmung abzusprechen und das Gefühl zu vermitteln, sich die Symptome nur einzubilden).

Einiges steht noch aus. Gestritten wird darum, welche Fragen erforscht werden und welches Wissen im Studium gelehrt wird, z.B. über Schwangerschaftsabbrüche, trans, inter und nicht-binäre Körper und Identitäten.

Unterschieden gerecht werden, das ist eine zentrale feministische Forderung. Und ebenso geht es darum, gleiche Behandlung zu sichern.

Es gibt eine lange und bittere Geschichte von Rassismus in der Medizin. Stoff für einen eigenen Vortrag. Nur ein Beispiel möchte ich nennen, eine Meldung aus Februar dieses Jahres und seit Jahren ein Thema: Laut einer aktuellen Studie ist die Sterblichkeitsrate bei Schwarzen Schwangeren und Gebärenden in den USA dreimal so hoch wie bei weißen. Die Vermutung liegt nahe, dass Rassismus hier eine Rolle spielt, dass unterschiedlich hingesehen, hingehört und ernstgenommen wird.

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Feministische Kritik stellt in Frage, was als „normal“ gilt: Zum Beispiel eine „Normalarbeitszeit“ von 40 Stunden und mehr. Mehr als die Hälfte der Frauen arbeitet in Teilzeit. Der Grund dafür oft: weil sie noch Sorgeverantwortung wahrnehmen. Oder weil in Bereichen wie der Pflege, solche Arbeit mit Schichtdienst voll bis zur Rente einfach nicht funktioniert.

Wieso gelten 40 Stunden da als normal und nicht als vollkommen absurd?

Die Frage der Zeit ist eine feministische Frage. Aus guten Gründen waren Frauen im Kampf um die 35-Stundewoche ganz vorne dabei: weil die Verfügung über Zeit eine Frage von Macht und Gerechtigkeit ist. Weil es darum geht, alle Arbeit gerecht zu teilen: Lohn- wie Sorgearbeit, politische Einmischung wie das Recht auf Entwicklung.

Frauenfreundliche Arbeitszeiten sind menschenfreundliche Arbeitszeiten!

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Eine feministische Perspektive rückt diejenigen in den Blick, die unsichtbar bleiben mit ihrer Arbeit, die – wenn es gut läuft – auch schon mal beklatscht werden, denen man auf großen Plakaten oder einmal im Jahr dafür dankt, dass sie sich so wunderbar aufopfern. Deren Arbeit als Liebesdienst gilt oder traditionell geringer entlohnt wird – oft klassische „Frauenarbeiten“ eben. Feministisch zu schauen heißt also, zu fragen:

Warum werden die so wichtigen Arbeiten, im Service – in der Küche, in der Reinigung und dort, wo ver- und entsorgt wird, wo Infrastruktur aufrechterhalten wird oder Kinder zur Welt gebracht werden, am geringsten entlohnt? Warum gibt es überall dort, wo mehrheitlich Frauen arbeiten, weniger Lohn? Weil traditionelle Frauenarbeit weniger „produktiv“ ist? Glaubt man immer noch, Frauen verdienen ja doch nur dazu? Oder sind zu solcher Arbeit berufen, ein Lächeln ist ihnen genug? Oder verlässt man sich darauf, dass in diesen Arbeitsbereichen ja doch nicht gestreikt wird, „weil es um Menschen geht“? Weil dann die Welt still stehen würde?

Dennoch: Viele Kolleg*innen hier streiten mutig, kreativ und entschlossen für gute Arbeitsbedingungen – weil mehr von euch gut ist für alle. Viele von ihnen und euch gehen nicht nur als Gesundheitsarbeiter*innen in den Streik, sondern setzen sich damit auch über geschlechtliche Rollenerwartungen hinweg.

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„Wenn jeder für sich sorgt, dann ist auch für alle gesorgt“ – so lautet das neoliberale Credo.

Wer kann es sich leisten, das zu behaupten? Wer glaubt wirklich, vollkommen unabhängig zu sein?

Niemand ist eine Insel! Wir alle können erkranken, wir alle müssen versorgt werden, vom Anfang bis zum Ende. Wir brauchen einander und eine gute, sichere Infrastruktur, die uns erlaubt, füreinander zu sorgen! Das ist menschlich und keine Schande, auch wenn das manchmal so diskutiert oder gerne verdrängt wird. Auch wenn diejenigen, die Hilfe benötigen, in unserer Gesellschaft beschämt werden.

Vom feministischen Standpunkt wird gefragt: Wer ist besonders verwundbar und hat keine Lobby – weil das falsche Geschlecht, die falsche Herkunft, keinen Pass oder zu wenig Geld? Wer kann das Recht auf freie Ärzt*innenwahl gar nicht wahrnehmen, weil die Architektur ihn oder sie dabei behindert? Wer bringt zu wenig Geld ein als Patient? FLINTA, Kinder, Alte, chronisch Erkrankte, Menschen, die Kinder gebären – sofern es kein Kaiserschnitt ist…

Was bleibt denen, die eine Schwangerschaft abbrechen wollen, wenn kirchliche Träger sich einfach verweigern und kommunale Strukturen vor Ort nicht existieren?

Wer ist besonders angewiesen auf Familie, Freund*innen oder eine Community, die beisteht, weil es sonst niemand tut? Und wer kümmert sich eigentlich darum, dass Angehörige zuhause versorgt werden? Nach der OP, womöglich „blutig entlassen“?

Wer braucht daher also dringend eine zuverlässige und zugängliche Gesundheitsversorgung?

Sorgeverhältnisse, das sind immer auch Geschlechterverhältnisse.

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Erst Montag sagte eine Kollegin in einer Veranstaltung – sie kämpft für den Erhalt von zwei Krankenhausstandorten in Köln: Wer für den Erhalt unserer Krankenhäuser streitet – und an vielen Orten geht es dabei um den Erhalt auch unserer ambulanten Versorgung – der verteidigt den Frieden. Der verteidigt ein friedensfähiges, solidarisches Gemeinwesen.

Ich möchte gerne ergänzen: Der tut auch etwas für die Demokratie. Studien legen zumindest nah, dass, wer sich alleingelassen und unbehaust fühlt, eher dazu neigt, auf Distanz zu gehen zur Demokratie. Der tritt womöglich eher nach unten und wird empfänglich für menschenfeindliche Ideologien (Ich formuliere hier mit großer Vorsicht. Es ist keineswegs ausgemacht, wie Menschen die Erfahrung, alleingelassen zu sein, verarbeiten und welche Schlüsse sie daraus ziehen. Auch kollektive, solidarische Selbstorganisation ist ein möglicher Weg. Siehe dazu auch die Anmerkungen unten).

Feministinnen wie Joan Tronto schlagen vor, Demokratie als fürsorgliche Praxis zu denken. Nicht als ein Ding, das schon voll realisiert ist, weil wir doch alle gleich sind an Rechten. Vielmehr Demokratie zu begreifen als das unentwegte Bemühen, die Bedingungen für Gleichheit erst herzustellen: Keinen zurücklassen. Die Wunden versorgen, die Sexismus und Rassismus jeden Tag schlagen. Im Grundgesetz verankern, dass niemand dafür benachteiligt werden darf, weil er*sie Sorgearbeit leistet (eine Forderung der feministischen LIGA für unbezahlte Arbeit). Sicherstellen, dass diejenigen, die Sorgen und Sorge in Anspruch nehmen, dabei mitreden und gestalten. Dass sie an Autonomie nicht verlieren, sondern gewinnen.

All das ist zu gewinnen aus feministischer Perspektive: Kritik und Vorschläge für eine am Bedarf orientierte, wohnortnahe, barrierefreie Gesundheitsversorgung, mit guten Arbeitsbedingungen für alle.

Eines wage ich und wagen wir zu behaupten: Das wird sich finanziell womöglich nicht lohnen. Das muss man wollen. Der Markt wird das nicht richten. Das funktioniert nicht in Konkurrenz und nicht mit dem Druck zu Profit und Rendite.

Dazu braucht es demokratische Planung. Hier ist Politik in Verantwortung.


Quellen und Lesetipps:

  • Website und Forderungen des „Bündnis für ein Gemeinwohlorientiertes Gesundheitswesen NRW“: https://gesunde-krankenhaeuser-nrw.de/
  • Sabina Schwachenwalde: Ungleich behandelt. Goldmann Verlag 2024
  • Joan Tronto: Demokratie als fürsorgliche Praxis. Feministische Studien 2000,
    https://www.academia.edu/86976523/Demokratie_als_f%C3%BCrsorgliche_Praxis

Zum Zusammenhang von Einsamkeitserfahrungen und autoritären Einstellungen am Beispiel Jugendlicher siehe die Studie des Progressiven Zentrums von 2023: https://www.progressives-zentrum.org/publication/extrem-einsam/. Einsamkeit als Erleben, Erfahrung und Fakt ist vielschichtig. Dass strukturelle Unversorgtheit eine wichtige Rolle spielt, erscheint mir plausibel, siehe dazu auch Noreena Hertz: „Das Zeitalter der Einsamkeit“, Harper Collins Verlag 2020.  Debatten um Menschenwürde und Sozialstaat veranschaulichen die Demokratie-Relevanz eines sorgenden Staates.