Wer wissen will, wie sich Vertreter des kapitalistischen Gesundheitsmarktes unser zukünftiges Gesundheitssystem vorstellen, sollte das im Verlag der großbürgerlichen “Frankfurther Allgemeinen Zeitung” herausgegebene Buch von Francesco de Meo “Den schlafenden Riesen wecken” lesen.
Als ehemaliger CEO des größten europäischen Krankenhauskonzerns Helios und ehemaliges Vorstandsmitglied im Medizintechnik- und Gesundheitskonzern Fresenius weiß de Meo genau, wovon er spricht.
Seiner Analyse, woran unser Gesundheitssystem krankt, kann man zum Teil uneingeschränkt zustimmen. So zum Beispiel, dass die Aufspaltung der Kosten auf verschiedene Kostenträger – Investitionskosten auf die Länder, Betriebskosten auf die Krankenkassen – dazu führt, dass sich keiner wirklich für das System als Ganzes verantwortlich fühlt. Auch die Sektorentrennung zwischen stationärer und ambulanter Versorgung führt dazu, dass Krankenhäuser und niedergelassene Ärzte nicht im Interesse einer optimalen Gesamtversorgung und einer sparsamen Kostenentwicklung zusammenarbeiten. Stattdessen muss jeder auf seinen ökonomischen Vorteil bedacht sein und darauf hinwirken, den maximalen Anteil an Krankenkassenbeiträgen für seine Arbeit zu erhalten. De Meo nennt das die “Opportunitäten”. Jede und jeder, auch die Beschäftigten sind davon nicht ausgenommen. Das System zwingt jeden dazu, auf seinen Vorteil zu achten, da er sonst im wahrsten Sinne des Wortes nicht auf seine Kosten kommt.
Auch die von De Meo propagierten Ziele für eine Gesundheitsreform sind absolut unterstützenswert: Prävention statt Intervention, Kooperation statt Selektion, barrierefreie Behandlungspfade statt “Sektorensilos”, digitale Prozesse statt Papierberge, intelligente Organisation statt Ressourcenverschwendung. Auch “Interaktive Datenplattformen” können in einem gemeinwohlorientierten Gesundheitssystem nützlich sein.
Der Haken bei der Sache ist, De Meo ist nicht dem Gemeinwohl sondern der Profitmaximierung privater Akteure verpflichtet. Seine Sorge ist: “Wie schaffen wir es, in der Medizin und der Pflege eine nachweislich hohe Qualität anzubieten und gleichzeitig attraktive Gewinne zu erzielen.”
Ein Weg zu diesem Ziel führt über das DRG-System. Seinen Wert hat es dadurch bewiesen, dass es nach eigener Einschätzung dem privaten Krankenhausträger Helios durch optimale Ausnutzung der DRG-Kodierung, durch Synergieeffekte und Kostensenkungen zu den Gewinnen verholfen hat, mit denen er seine Expansion zum größten Krankenhauskonzern Europas finanzieren konnte. Auch liefern die durch das DRG-System massenhaft zur Verfügung gestellten Routinedaten die Basis für eine ständige Qualitätsmessung und -verbesserung. Für De Meo sind sie der Beweis, wie man Kosten senken und eine hohe Behandlungsqualität liefern und transparent belegen kann.
Bei der Übernahme des noch aus der DDR stammenden Maximalversorgers Buch in Berlin im Jahr 2001 hatte De Meo bewiesen, dass er über die DRGs auch die eigentlich vom Land zu finanzierenden Investitionskosten stemmen konnte. Jetzt geht es darum, auch die Sektorengrenze zwischen Krankenhäusern und niedergelassenen Ärzten zu überwinden und integrative Versorgungsnetzwerke mit regionalen Budgets zu schaffen, die aus verschiedenen Töpfen gespeist werden. So könnte z.B.ein über eine Ausschreibung ermittelter Anbieter (ein Netzwerk, eine Klinik oder eine Gruppe) gegen Zahlung einer jährlichen Kopfpauschale die gesamte Gesundheitsversorgung für eine räumlich und medizinisch definierte Population übernehmen. Da ein solches Versorgungssystem jedoch nicht zentral verordnet werden könne, brauche es Vorzeigeprojekte. Als Modellregionen böten sich die an, die besonders unter Unter- oder Überversorgung und defizitären Strukturen litten. Je nach Gegebenheit sind unterschiedliche Varianten möglich. Für eine Übergangszeit wären auch Gesundheitskioske oder Gesundheitszentren auf Landkreis- und Gemeindeebene vorstellbar.
Sind die Sektorengrenzen zwischen stationär und ambulant mit ihren unterschiedlichen Geldtöpfen einmal überwunden, muss es neue Kriterien für die Zuteilung der Gelder geben. Da im Weltbild De Meos die Bevölkerung aufgrund ihrer persönlichen Befangenheit nicht in der Lage ist, zwischen Bedürfnissen und “evidenzbasiertem Bedarf” zu unterscheiden, müssen die entsprechenden Kriterien für eine bedarfsgerechte Versorgung von oben vorgegeben werden. Über eine von der Politik entwickelte “Agenda” sollen dann die Geldströme in die richtigen Netzwerkstrukturen gelenkt werden. Als Empfänger kommen drei von De Meo definierte Bereiche infrage: fünf Volkskrankheiten (Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetis, Krebs, Rückenschmerzen und Depressionen) sowie die als besonders mangelhaft bezeichnete Versorgung von Kindern und alten Menschen. Für Rettungsdient, Notfallversorgung und damit verbundene Intensivmedizin sollen in erster Linie Landkreise und Gemeinden zuständig sein, die dafür einen Teil der Gelder aus den heutigen Geldtöpfen erhalten, mit denen sie dann auskommen müssen. Knappe Kassen würden dann von selbst dafür sorgen, dass liebgewordene alte Strukturen durch neue zeitgemäße ersetzt werden.
Für ein bezahlbares und bedarfsgerechtes Gesundheitssystem muss Deutschland massiv digital aufrüsten und die Vernetzung digitaler Systeme vorantreiben. Die Einführung der “elektronischen Patientenakte” (EPA) ist ein erster wenn auch verpäteter Schritt. Für Forschung und zur Ermittlung des Versorgungsbedarfs braucht es flächendeckende, umfassende und gut aufbereitete Daten und zwar nicht nur aus Krankenhäusern und Arztpraxen, sondern aus der ganzen Gesellschaft. Die Menschen sollen zu begeisterten “usern” von digitalen Anwendungen werden, die ihre Daten vorbehaltlos zur Verfügung stellen.
Zur Förderung “digitaler Gesundheitsprojekte” sollen Gelder gezielt an Leistungsanbieter fließen, die sich regional in “Versorgungsclustern” zusammenschließen und für die Umsetzung digitaler Lösungen in den von der Gesundheitsagenda vorgesehenen Bereichen bewerben. Der Fantasie sind hier keine Grenzen gesetzt. Sie reichen von digitalen Trackern zur präventiven Begleitung und nachsorgenden Überwachung, Programmen für eine bewusstere Lebensführung und Ernährung, genotypischen Analysen, telemedizinischer Betreuung bis zu digitalen Zwillingen, sogenannten Avataren, ob als Hausarzt oder Patient. Die jeweilige Behandlung findet dann wiederum innerhalb der dafür vorgesehenen Gesundheitsbudgets statt.
Angesichts der dramatisch ansteigenden Ressourcenknappheit im Gesundheitswesen ist nach De Meo ein sofortiges Umsteuern auf Regionalbudgets erforderlich. Statt defizitäre Krankenhäuser weiter zu stützen, soll ihnen die Chance auf einen Neuanfang in einem “Versorgungscluster” gegeben werden. Mit einer geänderten Finanzierungsstruktur und den nötigen Freiräumen durch die Politik könne so in drei Phasen eine Transformation bis zum Jahr 2030 gelingen.
Fazit:
Man muss dem ehemaligen Klinikchef der privaten Helios-Klinik zugestehen, dass er strukturelle Probleme des deutschen Gesundheitssystems korrekt benennt. Seine von den finanziellen Einzelinteressen der Akteure ausgehende Alternative (“follow the money”) entspricht der von ihm vertretenen Profitlogik. An den eigentlichen Ursachen für viele Volkskrankheiten, den durch das von ihm nicht infrage gestellte kapitalistische System bedingten krankmachenden Lebens- und Arbeitsverhältnissen, will er naturgemäß nicht rütteln.
Es ist Zeit, den von einem negativen Menschenbild ausgehenden Visionen De Meos ein umfassendes solidarisches, selbstbestimmtes und menschengerechtes Gegenmodell entgegenzusetzen.
Ein Kommentar von Anne Schulze-Allen (Mitglied im Bündnis für ein gemeinwohlorientiertes Gesundheitswesen)
(Beitragsbild: Pixabay/padrinan)