Das Bündnis für ein gemeinwohlorientiertes Gesundheitswesen in NRW fordert die flächendeckende Einrichtung multiprofessioneller, rund um die Uhr geöffneter, bettenführender ambulanter Versorgungszentren
Im Jahr 2023 soll die neue Krankenhausplanung des Landes NRW umgesetzt werden. Alles soll besser und billiger werden. Jede Klinik, die Herzinfarkt- oder Schlaganfallbehandlungen anbietet, Krebskranke behandelt, Frühchen versorgt oder Geburtshilfe leisten möchte, braucht einen neuen Versorgungsauftrag des Landes, auch wenn sie diese Leistungen schon seit Jahren oder Jahrzehnten erbringt. Den Zuschlag sollen die Krankenhäuser mit den besten Strukturen und der größten Erfahrung bekommen. Die Landesregierung verspricht qualitätssteigernde „Spezialisierung“ und zugleich flächendeckende, wohnortnahe Versorgung. Das hört sich gut an.
Gleichzeitig kündigt sie aber an, die Kosten, die das Krankenhauswesen verursacht, zu senken und bis zum Jahr 2032 18.400 Krankenhausbetten (= 17,9 % der Betten) abzubauen. Um das zu erreichen, sollen 570.000 Krankenhausbehandlungen jährlich, fast 12 % der „Fälle“, in Arztpraxen und Medizinische Versorgungszentren verlagert werden. Viele kleine und mittelgroße Eingriffe (Darmspiegelungen, Mandeloperationen, die Entnahme von Krebsknoten aus der Brust, die Entfernung von Krampfadern und viele andere) sollen „ambulant“ durchgeführt werden.
Das Schlagwort, das diese Zielsetzung beschreibt, heißt „Ambulantisierung“.
Ambulantisierung ist der neue Trend. In Düsseldorf und anderen Landeshauptstädten ebenso wie in Berlin, bei Krankenkassen, Klinikkonzernen, Ärztekammern, Politiker*innen, Journalist*innen, Gesundheitswissenschaftler*innen. Ihre Befürworter*innen berufen sich darauf, dass die Bundesrepublik im europäischen
Vergleich besonders viele Krankenhausbehandlungen aufweist. Doch Deutschland ist anders als die anderen:
Was geschieht, wenn die „ambulantisierten“ Frischoperierten Hilfe benötigen, wenn ihre Wunden nachbluten, wenn ihre Schmerzen zunehmen, wenn das Fieber steigt, wenn ein dementer Mensch in Panik gerät? Dann muss man in Deutschland, im Gegensatz zu den meisten anderen europäischen Ländern, ins Krankenhaus. Denn nachts, an Wochenenden und Feiertagen und mittwochsnachmittags sind die Arztpraxen und MVZs geschlossen.
In Deutschland fehlt das Bindeglied zwischen Krankenhaus und Arztpraxis, das in fast allen Nachbarländern vorhanden ist:
Leicht erreichbare und zugängliche, rund um die Uhr geöffnete ambulante Versorgungszentren, in denen Ärzt*innen verschiedener Fachrichtungen, Pflegekräfte, Med. Fachangestellte, MTAs, Psycholog*innen und Sozialarbeiter*innen zusammenarbeiten; Zentren, die über ein Labor, eine Röntgenabteilung, einen Computertomographen und andere diagnostische Einrichtungen und über eine ausreichende Zahl an Überwachungsbetten verfügen.
In Schweden heißen diese Einrichtungen Versorgungszentren, in Spanien Gesundheitszentren, in Frankreich Centres de Santé, in der DDR hießen sie Polikliniken und Ambulatorien. Es gibt sie überall in Europa, außer bei uns. In Schweden etwa 1.200 Einrichtungen für 10,4 Mio. Einwohner*innen, in der DDR gab es 1.650 Polikliniken und Ambulatorien für 17 Mio. Einwohner*innen.
Hochgerechnet auf NRW: Unser Bundesland würde mindestens 1.800 „intersektorale“ (zwischen Krankenhaus und Arztpraxis angesiedelte) Versorgungszentren benötigen, um die angestrebte „Ambulantisierung“ zu ermöglichen.
Wer irgendwann sogar 20 % aller jetzigen Krankenhausbehandlungen ambulant durchführen lassen möchte, wie der Sachverständigenrat, der die Bundesregierung berät, der muss erst die neuen Versorgungszentren aufbauen, muss sie in Gang bringen und die Patient*innen durch gute Qualität und leichte Zugänglichkeit davon überzeugen, dass sie verlässlich sind.
Solange es solche Einrichtungen nicht gibt, dürfen keine Krankenhausbetten abgebaut werden!
Woher soll angesichts des Fachkräftemangels das Personal für neue intersektorale Zentren kommen? Das Personal müsste gemeinsam mit den Patient*innen vom Krankenhaus in die Versorgungszentren wechseln. Das kann nur gelingen, wenn sich die Arbeitsbedingungen dabei nicht verschlechtern oder sogar verbessern. Die Versorgungszentren müssten also die Tarifverträge von ver.di und Marburger Bund anwenden. Flächendeckende Tarifbindung ist aber nur möglich, wenn die Versorgungszentren kommunale Einrichtungen sind. Damit wären sie auch vor dem Zugriff von Finanzinvestoren und privaten Gesundheitskonzernen geschützt.
Wir als Bündnis für ein gemeinwohlorientiertes Gesundheitswesen in NRW und die in ihm zusammenarbeitenden Organisationen fordern von der Landesregierung:
- Der Bettenabbau muss jetzt gestoppt werden!
- NRW braucht flächendeckend neue multiprofessionelle 24/7-Versorgungszentren, am besten in kommunaler Trägerschaft!
- Darüber hinaus muss den Krankenhäusern das Recht zugestanden werden, hochspezialisierte ambulante Behandlungen, z.B. bei Krebserkrankungen, die die Infrastruktur eines Krankenhauses erfordern, durchzuführen. Diese Behandlungen müssen kostendeckend vergütet werden.